Michael Patra

Wo ist ein Problem, wo ist kein Problem?

Wenn ein Problem bzw. eine Störung erkannt wird, ist es selbstverständlich wichtig, so viel Information wie möglich über das Problem oder die Störung zu sammeln. Dieser Schritt ist so selbstverständlich, dass er selten vergessen wird – auch dann nicht, falls es keinen systematischen Prozess zur Informationssammlung geben sollte. Was aber häufig übersehen wird, ist, dass auch das Sammeln von Informationen darüber, wo kein Problem bzw. keine Störung vorliegt, für das Weiterkommen essentiell ist.

Im Beispiel liegt das Ausgangsproblem darin, dass das Display des Radioweckers nicht mehr die Uhrzeit anzeigt.

Als einfaches Beispiel wird der Radiowecker aus der obigen Abbildung betrachtet. Aus irgendeinem Grund zeigt das Display des Radioweckers nicht mehr die Uhrzeit an. Das Ausgangsproblem kann also wie folgt beschrieben werden:

Wo liegt ein Problem vor?
Display des Radioweckers

Meistens kommen einem sofort Ideen, was die Ursache dieses Problems sein könnte, von einem gezogenen Netzstecker über einen Defekt im Radio bis hin zu einem stadtweiten Stromausfall.

Man könnte nun anfangen, den Radiowecker zu zerlegen, um seine einzelnen Bestandteile genauer untersuchen zu können, so dass die Vermutung „Defekt“ bestätigt oder widerlegt werden kann. Dieses Vorgehen ist aber denkbar ineffizient, da besser zuerst weitere Informationen gesammelt werden sollten. Dies sind zum einen Informationen darüber, wo überall ein Problem vorliegt – aber genau so auch darüber, wo kein Problem auftritt, obwohl ein ähnliches Problem auftreten könnte. Ein Beispiel hierfür ist die Frage, ob man mit dem Radiowecker noch Radio hören kann. Ein Problem mit der Radiofunktion könnte auftreten, da gewisse Komponenten des Radioweckers wie z.B. die Stromversorgung sowohl für die Uhrzeitanzeige als auch für das Radiohören wichtig sind.

Tabelle  zeigt drei denkbare Ergebnisse einer solchen Aufstellung. Man sieht sofort, dass das Wissen über das Nichtvorhandensein eines Problems viel hilfreicher als das Wissen über das Vorhandenseins sein kann. Die Information „Radiofunktion nicht vorhanden“ lässt noch mehrere Ursachen offen, während die Information „Radiofunktion ist in Ordnung“ sehr stark darauf hindeutet, dass das Display (und nur das Display) kaputt ist.

Option Wo liegt ein Problem vor? Wo liegt kein Problem vor
(obwohl es auftreten könnte)?
1 Display des Radioweckers Radiofunktion
Staubsauger an selber Steckdose
2 Display des Radioweckers
Radiofunktion
Staubsauger an selber Steckdose
3 Display des Radioweckers
Radiofunktion
Staubsauger an selber Steckdose
 

Für ein solch einfaches Problem wie den Radiowecker ist das explizite Aufstellen einer Tabelle „Wo liegt ein Problem vor?“ und „Wo liegt kein Problem vor (obwohl es auftreten könnte)?“ sicherlich übertrieben. Bei komplexeren Themen wird eine solche Tabelle schnell sehr sinnvoll. Das wichtigste Kriterium für die Notwendigkeit einer solchen Tabelle ist jedoch, ob zur Problemlösung verschiedene Fachleuten zusammenarbeiten (müssen) – wird auf eine explizite Tabelle verzichtet, können leicht wichtige Informationen auf dem Weg vom einen Beteiligten zum anderen Beteiligten verloren gehen.

Als ein Beispiel betrachten wir einen Federring. Diese Federringe werden in einer chemischen Anlage verbaut, wo die Schraubverbindungen aggressiven Gasen ausgesetzt sind. Irgendwann bemerkt die Qualitätssicherung, dass viele Federringe nach einigen Monaten anfangen, zu korrodieren. Aus diesem Grund wird eine Arbeitsgruppe, bestehend aus Entwicklungsmitarbeitern, Produktionsingenieuren und Qualitätsbeauftragten gebildet.

Ein Federring wird unter einer Mutter eingeschraubt, um (hoffentlich) ein ungewolltes Losdrehen zu verhindern.

Die Qualitätsabteilung, die dieses Problem entdeckt und untersucht hat, wird der Arbeitsgruppe sicherlich unaufgefordert – also ohne dass jemand danach fragen müsste – Informationen der folgenden Art mitteilen:

Mit diesen Informationen wird eine Arbeitsgruppe aus verschiedenen Fachleuten sicherlich ein Dutzend verschiedene Ursachen des Problems, Möglichkeiten zum potentiellen Abstellen des Problems und/oder sinnvolle weitere Experimente vorschlagen können.

In der Praxis wird leider die Information darüber, wo kein Problem auftritt, oftmals nicht an andere Personen bzw. an eine Arbeitsgruppe weitergegeben. Dieses ist keine böse Absicht, sondern alles, wo kein Problem auftritt, wird als unwichtig angesehen. Die Chance dafür, dass die folgende Information nicht weitergeben wird, ist also (zu) groß:

Federringe unterscheiden sich von Unterlegscheiben primär dadurch, dass erstere durchgeschnitten und leicht aufgebogen worden sind.

Federringe benötigen zu ihrer Herstellung im Vergleich zu Unterlegscheiben einen zusätzlichen Fertigungsschritt, nämlich das Aufschneiden und Aufbiegen des Ringes. Mit diesem zusätzlichen Wissen wird das Problem schlagartig viel klarer: Die Ursache für das Auftreten der Korrosion liegt wahrscheinlich im zusätzlichen Herstellungsschritt der Federringe: Das Schneiden könnte die Oberflächenbeschichtung zerstören, das Biegen die regelmäßige Kristallstruktur zerstören, im Spülwasser zum Abführen der Metallspäne nach dem Durchsägen könnten schädliche Chemikalien sein, …Materialzusammensetzung und Temperatur scheinen dagegen nicht weiter relevant zu sein.

Nur durch das Abfragen einer Tabelle kann das vorhandene Wissen mit größerer Sicherheit an alle Beteiligten weitergeben werden.

Wo ist ein Problem? Wo ist kein Problem?
Federringe zeigen Korrosion Muttern zeigen keine Korrosion
Unterlegscheiben zeigen keine Korrosion
Rohre zeigen keine Korrosion

Sobald diese Tabelle vorhanden ist, kommt die Frage nach den Eigenschaften der Unterlegscheiben und ihren Unterschieden im Vergleich zu den Federringen quasi automatisch.

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