Michael Patra

S-Kurven

Die Entwicklung technischer Systeme folgt gewissen Regeln. Eine dieser Regeln gibt an, wie sich der Nutzen bzw. die Funktionalität des Systems mit der Zeit verändert. Im Verlauf dieser Kurve kann man mit etwas Phantasie ein „S“ erkennen, weswegen diese Kurve als S-Kurve bezeichnet wird. Entlang der horizontalen Achse wird die Zeit aufgetragen, auf der vertikalen Achse der Nutzen, die Funktion oder ein MPV (most important parameter of value) des Systems. Für jeden Zeitpunkt betrachtet man die aktuelle Produktgeneration eines technischen Systems – das System verändert sich, besitzt aber immer dasselbe gleichen technischen Wirkprinzip. Man analysiert also z.B. Röhrenfernseher, so wie sie zu dem betreffenden Zeitpunkt typischerweise verkauft worden sind.

Die zeitliche Entwicklung des Nutzens (bzw. der Funktionalität) eines technischen Systems hat einen gewissen Verlauf. Dieser Verlauf sieht für die meisten Systeme sehr ähnlich aus und wird wegen seiner Form als S-Kurve bezeichnet.

Die S-Kurve hat vier prägnante Phasen, die hier am Beispiel des technischen Systems „Röhrenfernseher“ erläutert werden sollen:

Phase I: In dieser Phase ist das technische System noch nicht ausgereift und deswegen nicht am Markt erhältlich. Es existiert bereits in Laboratorien oder als Designstudien. Die ersten Tests der Übertragung von Fernsehbildern fanden bereits 1906 statt, der erste öffentliche Fernsehsender wurde jedoch erst 1934 errichtet. Der Zeitraum dazwischen bildete die Phase I des Systems „Fernseher“.

Phase II: Das System ist mittlerweile auf dem Markt erhältlich und die Absatzzahlen steigen, so dass es zu einem normalen Haushaltsgegenstand wird. 1955 gab es in der DDR erst 13.000 Fernsehgeräte, 1960 bereits 1 Millionen und 1970 sogar 4 Millionen Geräte. Durch neue Funktionen wird der Nutzen signifikant erhöht, zum Beispiel in der Bundesrepublik Deutschland durch die Einführung des Farbfernsehens im Jahr 1967.

Phase III: Das System ist ausgereift. Technische Verbesserungen sind nur noch marginaler Art, wie z.B. die Einführung von Videotext oder Stereoton. Die Leistung des Systems wird optimiert, z.B. durch kleinere Tiefe des Fernsehers oder ein dunkleres Schwarz der Bildröhre.

Phase IV: Das technische Systeme hat seinen Zenit überschritten, weil sich eine leistungsfähigere Konkurrenz etabliert hat. Seit 2007 wurde der Röhrenfernseher bereits weitestgehend von Flachbildfernsehern verdrängt. Das technische System Röhrenfernseher wird noch eine Zeitlang für Billiganwendung weiterproduziert. Solche Billigfernseher besitzen jedoch keine Funktionen wie 100 Hz Technik oder extra dunkles Schwarz mehr, der Nutzen bzw. die Funktionalität nimmt also wieder ab.

Neben diesen vier klassischen Phasen wird heutzutage noch eine zusätzliche sogenannte Übergangsphase unterschieden. In der Übergangsphase ist das neue technische System bereits am Markt erhältlich. Sein Nutzen ist für breite Kreise jedoch noch zu gering, um attraktiv zu sein. Es wird daher nur für Nischenanwendungen eingesetzt, oder es ist ein „Spielzeug“ für technikaffine „Early Adopters“. In der Übergangsphase entscheidet sich, ob ein technisches System ein Erfolg werden oder ob es schnell wieder vom Markt verschwinden wird.

Um die Übergangsphase und damit den richtigen Zeitpunkt für den Markteintritt zu erkennen, muss man sich darüber klar werden, was sie von der Phase I unterscheidet. In der Phase I wird zwar viel am technischen System verbessert, der Nutzen erhöht sich aber kaum. Dies liegt daran, dass der Nutzen eines Systems durch die Leistungsfähigkeit seines schwächsten Gliedes begrenzt ist. Auch wenn dank Investitionen in Forschung und Entwicklung bereits gute Antennen, Bildröhren und Kameras vorhanden sein sollten, so ist der Nutzen des Systems „Fernseher“ trotzdem weiterhin praktisch Null, solange noch keine funktionsfähigen Hochfrequenzverstärker bereit stehen. Weitere Verbesserungen an Antennen, Bildröhren und Kameras führen damit zu keiner Erhöhung des Nutzens des Gesamtsystems „Fernseher“.

Damit Fernsehen praktikabel wird, müssen Antennentechnik, Hochfrequenzverstärker, Bildröhren und Bildaufnahmegeräte zur Verfügung stehen. Solange ein einziger dieser Bereiche noch nicht funktionsfähig ist, bringt ein Fernseher keinen Nutzen – aucb wenn alle anderen Bereiche bereits vollständig ausentwickelt sind.

Sobald die letzte Engstelle im System beseitigt worden ist, wechselt das System von der Phase I in die Übergangsphase. Ab jetzt führt jede Verbesserung einer Komponente sofort zu einer Erhöhung des Nutzens des technischen Systems. Dieses erklärt das starke Wachstum des Nutzens am Ende der Übergangsphase und am Anfang der Phase II.

Sobald das technische System erfolgreich wird, passt sich seine Umgebung an es an. Bessere Antennen verbessern den Empfang, Tageszeitungen drucken das Fernsehprogramm ab, in Möbeln wird Platz für einen Fernseher vorgehalten, das Angebot an Fernsehsendungen steigt. Der Nutzen des technischen Systems „Fernseher“ steigt hierdurch, ohne dass sich am Fernseher selber etwas zu ändern bräuchte.

In der Phase II gibt es jedoch noch eine weitere Erklärung für den schnellen Anstieg des Nutzens, und dieser Grund liegt außerhalb des eigentlichen technischen Systems. Sobald ein technisches System erfolgreich wird, passt sich seine Umgebung an es an. Hierdurch steigt der Nutzen des technischen Systems, ohne dass das System selber verbessert werden müsste. Sobald genügend Fernseher verkauft worden sind, werden immer mehr Fernsehprogramme produziert – weswegen sich wiederum mehr Leute einen Fernseher kaufen, und der Kreis schließt sich. Sobald es genügend viele Autobesitzer gab, wurden Autobahnen und Tankstellennetze errichtet, wodurch Autofahren noch attraktiver wurde. In der Phase II kann der Nutzen eines Systems also gesteigert werden, ohne dass hierzu übermäßige Anstrengung bei der Weiterentwicklung des Systems notwendig wäre.

Idealität