Michael Patra

Idealität

Das Ziel jeglicher Produktentwicklung ist es, ein möglichst ideales System zu erreichen. Die Idealität I ist als

I = nützliche Funktionen / ( Aufwand + schädliche Funktionen )

definiert. Jedes sinnvoll entwickelte bzw. kommerziell erfolgreiche technische System übt viel mehr nützliche als schädliche Funktionen aus. In der Praxis dürfen die schädlichen Funktionen deswegen genauso gut auch in den Zähler gestellt werden, so dass die Idealität auch mittels der einfacher auswertbaren Formel

I ≈ ( nützliche Funktionen - schädliche Funktionen ) / Aufwand

berechnet werden kann. In der Betriebswirtschaftslehre gibt es eine sehr verwandte Größe, nämlich den Wert eines Produktes aus Sicht des Kundens,

W = Nutzen / Kosten.

Nutzen und Funktionen besitzen beinahe dieselbe Bedeutung, genau wie Aufwand und Kosten. Im Folgenden wird daher zwischen diesen Begriffen nicht mehr streng unterschieden.

Beide Größen, Idealität I und Wert W, können für die folgenden Betrachtungen beliebig gegeneinander ausgetauscht werden, denn beide Größen beschreibt letztendlich, wie attraktiv ein Produkt für einen potentiellen Käufer ist. Ein neues Produkt kann sich nur dann am Markt durchsetzen, wenn seine Idealität höher als die der bereits am Markt verfügbaren Produkte ist – ansonsten würde der Kunde weiterhin das Vorgängermodell kaufen. Hieraus folgt, dass sich im Laufe der Entwicklung eines technischen Systems, also von Produktgeneration zu Produktgeneration, die Idealität erhöhen muss.

Aus den Formeln folgt direkt, dass es vier verschiedene Möglichkeiten gibt, die Idealität eines Systems zu erhöhen:

  1. Der Aufwand wird verringert (bei konstanter Funktion).

  2. Die Funktion wird erhöht (bei konstantem Aufwand).

  3. Funktion und Aufwand werden erhöht, aber die Funktion erhöht sich stärker als der Aufwand.

  4. Funktion und Aufwand werden verringert, aber der Aufwand verringert sich stärker als die Funktion.

Alle vier Ansätze werden in der Praxis tatsächlich verwendet, allerdings normalerweise zu verschiedenen Zeitpunkten im Produktlebenslauf. Die S-Kurve zeigte den typischen zeitlichen Verlauf des Nutzens. Damit die Idealität als Verhältnis von Funktion und Aufwand monoton ansteigt, muss der zeitliche Verlauf des Aufwandes gewisse Bedingungen erfüllen. Die folgende Abbildung zeigt einen möglichen Kurvenverlauf.

Der zeitliche Verlauf der Funktion eines technischen Systems folgt typischerweise der S-Kurve. Damit die Idealität zeitlich zunimmt, muss der zeitliche Verlauf des Aufwandes eine bestimmte Form haben.

Die vier weiter oben aufgelisteten Möglichkeiten, die Idealität eines Systems zu erhöhen, können nun leicht den verschiedenen Phasen der S-Kurve zugeordnet werden.

Entlang der S-Kurven gibt es verschiedene typische Aktionen zur Erhöhung der Idealität. Je mehr der potentiell verfügbaren Ressourcen bereits verwendet sind, desto weniger Möglichkeiten zum Hinzufügen neuer Funktionen gibt es noch.

In der Phase I ist das System noch nicht marktreif, und die Marktmechanismen, die dafür sorgen, dass sich die Idealität ständig erhöht, können damit noch nicht greifen. Es kann in dieser Phase also durchaus geschehen, dass das System aufwendiger wird, sein Nutzen aber sehr gering bleibt.

Spätestens ab der Übergangsphase steigt die Idealität an. In dieser Phase erhöht sich der Aufwand meistens, weil das System erst noch vervollständigt werden muss. Der Prototyp eines Elektroautos, wie er in der Phase I gefertigt wird, benötigt weder ein Autoradio noch eine stufenlose Sitzverstellung, eine umklappbare Rückbank oder eine Servolenkung. Ab der Übergangsphase muss ein Elektroauto diese Komponenten jedoch besitzen, um überhaupt einen Käufer finden zu können. Fernseher müssen jetzt mit derartigen Bedienungselementen ausgerüstet werden, dass auch ein Laie sie bedienen kann. Dieses erhöht den Aufwand bzw. die Kosten des technischen Systems, wird jedoch durch die daraus folgende Erhöhung der Funktion mehr als überkompensiert.

Im späteren Teil der Phase II sowie am Anfang der Phase III hat man entwicklungstechnisch so viel dazu gelernt, dass man in der Lage ist, die Funktion zu erhöhen, ohne dass dieses zu höherem Aufwand führt. Das bessere Verständnis von Aerodynamik erlaubt es, windschnittigere Autokarosserien zu entwickeln. Diese sind in der Herstellung nicht teurer als die älteren Karosserien, verringern aber den Treibstoffverbrauch des Autos. Eine höhere Integrationsdichte elektronischer Schaltkreise erlaubt es, ohne Mehraufwand Funktionen wie Videotext in Fernseher zu integrieren. Die Funktion bzw. der Nutzen steigen also, ohne dass sich der Aufwand erhöht.

Ab der Phase III liegt der Fokus auf einer Verringerung des Aufwandes. Durch Fortschritte bei der Produktionstechnik können Komponenten immer kleiner und damit auch billiger produziert werden. Weiterhin wird verstanden, wie zwei getrennte Komponenten zu einer einzigen Komponente zusammengefasst werden können, was ebenfalls die Herstellungskosten verringert.

Der Übergang von der Phase II zur Phase III kann im Rahmen des Ressourcenkonzeptes gut beschrieben werden (siehe den schattierten Balken in der Abbildung im Abschnitt über S-Kurven). Ressourcen sind alle die Dinge, die zur Lösung eines Problems, insbesondere also zur Erhöhung der Funktion eines Systems genutzt werden können. Solange noch Ressourcen zur Verfügung stehen, ist eine Erhöhung der Idealität durch Erhöhung der Funktion möglich. Irgendwann sind alle verfügbaren Ressourcen jedoch bereits verwendet, weswegen eine weitere Verbesserung der Funktion kaum noch möglich ist. Ab diesem Zeitpunkt kann eine signifikante Erhöhung der Idealität nur noch über eine Verringerung des Aufwandes erreicht werden.

Die Phasen I bis III waren vom technischen System und seinen technischen Fortschritten bestimmt, d.h., der Zeitpunkt, zu dem das System von einer Phase zur nächsten wechselte, konnte am System abgelesen werden. Bei der Phase IV ist dieses anders: Sie hängt nicht so sehr vom System, sondern vielmehr von seinen Konkurrenzsystemen ab. Sobald diese attraktiver als das System werden, beginnt die Phase IV. Dampflokomotiven wurden mit der Zeit immer besser. Das Ende der Dampflokomotiven, also ihr Übergang in die Phase IV, lag nicht an ihren Fähigkeiten und Eigenschaften, sondern daran, dass Diesel- und Elektrolokomotiven leistungsfähiger als Dampflokomotiven geworden waren. Die Phase IV des technischen Systems „Röhrenfernseher“ begann, als Flachbildschirme für den Durchschnittskäufer attraktiver als Röhrenfernseher geworden waren.

Der Zeitpunkt des Übergang des technischen Systems „Dampflokomotive“ in die Phase IV wurde nicht durch Einschränkungen der Dampflokomotive, sondern durch das Aufkommen der Diesellokomotive bestimmt.

In der Phase IV ist das technische System nur noch für Nischenanwendungen attraktiv. Dies können manchmal Bereiche mit besonderen technischen Anforderungen sein. Im militärischen Umfeld wurde die Verstärkerröhre nicht vollständig durch Halbleiterbauelemente ersetzt, da eine Verstärkerröhre widerstandsfähiger gegen elektromagnetische Pulse ist. Häufiger ist das System in Phase IV jedoch nur noch für Billiganwendungen attraktiv. Deswegen müssen die Kosten um jeden Preis gedrückt werden, auch wenn dabei Funktion verloren geht. Jemandem, der sich aus Kostengründen gegen einen Flachbildfernseher und für einen Röhrenfernseher entscheidet, sind Features wie 100 Hz Bildwiederholfrequenz nun einmal nicht sonderlich wichtig.

Abschließend sei noch erwähnt, dass eine Erhöhung der Funktion praktisch immer eine Produkt(weiter)entwicklung voraussetzt. Eine Verringerung des Aufwandes, der meist durch die Herstellkosten dominiert ist, kann dagegen oftmals leichter im Rahmen einer Überarbeitung der Herstellungsprozesse erreicht werden. Im Lebenszyklus eines technischen Systems wandert der Schwerpunkt also langsam von der Produktentwicklung zur Prozessentwicklung. Insbesondere in großen Firmen bedeutet dieses, dass zu verschiedenen Zeitpunkten verschiedene Abteilungen federführend bei der Erhöhung der Idealität sind.

Ideale Maschine